Viele Flüssigkeiten lassen sich auf Temperaturen unterhalb des Schmelzpunktes abkühlen, ohne dass Kristallisation auftritt. In diesen unterkühlten Flüssigkeiten verlangsamt sich die Relaxation der Struktur mit Erniedrigung der Temperatur kontinuierlich um ca. 15 Größenordnungen.

Glasbildung noch nicht vollständig verstanden

Unterhalb des Glaspunkts findet nach einer Störung auf der Zeitskala der Beobachtung keine strukturelle Relaxation mehr statt, der amorphe Festkörper Glas ist entstanden. Für die strukturelle Relaxation in unterkühlten Flüssigkeiten stellt man fest, dass ihre Zeitabhängigkeit nicht von einer Exponentialfunktion beschrieben wird und ihre Temperaturabhängigkeit keinem Arrhenius-Gesetz gehorcht. Viele Forschungsarbeiten postulieren, dass diese Effekte durch eine räumliche Heterogenität der Dynamik in unterkühlten Flüssigkeiten hervorgerufen werden. Trotz intensiver Forschung in den letzten Jahrzehnten ist jedoch die Ursache dieser Phänomene beim Glasübergang noch immer nicht vollständig verstanden.

Bild: AG Vogel

Experimente zum Glasübergang

Generell kann nicht-exponentielle Relaxation im Rahmen zweier verschiedener Grenzfälle erklärt werden, nämlich mit homogener Dynamik oder mit heterogener Dynamik.

Während sich die Moleküle im homogenen Fall hinsichtlich ihres dynamischen Verhaltens nicht unterscheiden, liegt im heterogenen Fall eine breite Verteilung von Korrelationszeiten vor. Mit einer Folge von sieben Radiofrequenz-Pulsen messen wir in der NMR z.B. Drei-Zeiten-Korrelationsfunktionen, die detailierte Auskunft über die Relevanz homogener und heterogener Beiträge zur Nicht-Exponentialität in unterkühlten Flüssigkeiten geben. Die Ergebnisse zeigen, dass die Existenz dynamischer Heterogenitäten eine wichtige Eigenschaft ist, d.h. langsame und schnelle Moleküle koexistieren bei einer Temperatur. Zwischen schnellen und langsamen Molekülen findet allerdings schneller Austausch statt, welcher die Ergodizität der unterkühlten Flüssigkeit wieder herstellt.

Experimentelle Drei-Zeiten-Korrelationsfunktion einer unterkühlten Flüssigkeit und Vorhersagen für rein homogene bzw. rein heterogene Dynamik
Experimentelle Drei-Zeiten-Korrelationsfunktion einer unterkühlten Flüssigkeit und Vorhersagen für rein homogene bzw. rein heterogene Dynamik
Bild: AG Vogel

Simulationen zum Glasübergang

Unsere Molekulardynamik-Simulationen bestätigen, dass die Dynamik in unterkühlten Flüssigkeiten räumlich heterogen ist. Zum Beispiel bilden Teilchen mit sehr hoher Beweglichkeit ausgedehnte Cluster. In diesen Clustern zeigen Gruppen hoch beweglicher Teilchen häufig eine kooperative Bewegungsform in „Strings“. Dabei ersetzen die beteiligten Teilchen ihr jeweiliges Nachbarteilchen entlang der Bewegungsrichtung des Strings.

Semilogarithmische Darstellung der reduzierten kooperativen Aktivierungsenergie als Funktion der reduzierten Temperatur für mehrere Varianten des SPC/E-Wassermodells
Semilogarithmische Darstellung der reduzierten kooperativen Aktivierungsenergie als Funktion der reduzierten Temperatur für mehrere Varianten des SPC/E-Wassermodells

Bei Erniedrigung der Temperatur nimmt die Größe der Cluster und der Strings stark zu. Dies ist eine mögliche Ursache der größeren Temperaturabhängigkeit der strukturellen Relaxation bei tieferen Temperaturen und somit der Abweichungen von einem Arrhenius-Gesetz. Während des Verlaufs der strukturellen Relaxation weisen unterschiedliche Gruppen von Teilchen erhöhte Beweglichkeit auf. Wir finden, dass Teilchen, die sich in der Nähe von vorher hoch beweglichen Teilchen befinden, eine höhere Tendenz haben, hoch mobil zu werden als andere Teilchen, d.h. es existiert eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine kontinuierliche Propagation von Mobilität.

Für die theoretische Beschreibung des Glasübergangs ist die Temperaturabhängigkeit der strukturellen Relaxation ein wesentlicher Input. In der Literatur besteht jedoch kein Konsens, welche funktionelle Form die charakteristischen Abweichungen vom Arrhenius-Gesetz am besten beschreibt. Eine vergleichsweise neuer Ansatz schlägt vor, die Aktivierungsenergie in zwei Beiträge aufzuspalten: Ein Beitrag, der konstant ist und durch die Dynamik der Flüssigkeit bei hohen Termperaturen bestimmt ist, und ein Beitrag, der mit Abkühlung wächst und die zunehmende Kooperativität der Dynamik beschreibt. Unsere Simulationsresultate für verschiedene Modelle von unterkühlten Flüssigkeiten, z.B. Wasser, Silicaschmelze und ionischen Flüssigkeiten, zeigen, dass die glasartige Verlangsamung auf eine exponentielle Temperaturabhängigkeit des kooperativen Beitrags zur Aktivierungsenergie zurückgeführt werden kann. Dies liefert eine wichtige neue Vorgabe für theoretische Ansätze.

Publikationen

  • M. Becher et al., “Molecular Dynamics Simulations vs Field-Cycling NMR Relaxometry: Structural Relaxation Mechanisms in the Glass-Former Glycerol Revisited,” The Journal of Chemical Physics 154, no. 12 (March 28, 2021): 124503, https://doi.org/10.1063/5.0048131.
  • R. Horstmann and M. Vogel, “Common Behaviors Associated with the Glass Transitions of Waterlike Models,” The Journal of Chemical Physics 147, no. 3 (July 21, 2017): 034505, https://doi.org/10.1063/1.4993445.
  • Niels Müller and Michael Vogel, “Relation between Concentration Fluctuations and Dynamical Heterogeneities in Binary Glass-Forming Liquids: A Molecular Dynamics Simulation Study,” The Journal of Chemical Physics 150, no. 6 (February 14, 2019): 064502, https://doi.org/10.1063/1.5059355.